»Ein Diskussionspapier der North-East Antifascists Berlin, 2016«, das es auch nach der Wahl in Berlin noch sehr zu lesen lohnt:
Die Qual mit der Wahl
Es ist wieder so weit: der Wahlkampf läuft! Und für die radikale Linke* (s. Anm.) stellt sich die Frage, was sie damit anstellt. Reaktionäre und rassistische Kräfte präsentieren ihre Menschenverachtung auf Plakaten und an unzähligen Infoständen, so dass wir als radikale Linke mit der »kreativen Umgestaltung« dieser Plakate und dem Protest gegen jene Wahlkampfstände kaum hinterher kommen. Die Zeit für eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Thema »Wahlen« bleibt meist nur bei abendlichen Tresengesprächen. Doch auch im Zusammenhang mit der Frage nach gesellschaftlicher sozialrevolutionärer Veränderung muss die Rolle von Parteien und Parlamenten diskutiert werden.
Gibt es eine Dialektik von Reform und Revolution? Können und sollten revolutionäre Kräfte an bürgerlichen Wahlriten teilnehmen? Und wie sieht unser pragmatisches Verhältnis zu bestehenden linken Parteien/ parlamentarischen Bündnissen aus?
Mit diesem Text wollen wir eine linksradikale Position zum ganzen Wahlspektakel formulieren und zum Nachdenken und Diskutieren anregen. So divers die bestehenden Meinungen sind, so dringend notwendig ist eine Auseinandersetzung darüber, wenn proto-faschistische Parteien wie die »Alternative für Deutschland« (AfD) Wahl für Wahl in weitere Parlamente einziehen und die fortschreitende Faschisierung gesellschaftlicher Diskurse und die weitergehende Etablierung rechter Machtteilhabe in Parlamenten, Ausschüssen, etc. kein Ende zu nehmen scheint. Dieses Papier entsteht im Kontext der bevorstehenden Berliner Abgeordnetenhaus- und Bezirkswahlen im September 2016, der bevorstehenden Bundestagswahl 2017, sowie zahlreichen weiteren lokalen und regionalen Wahlen.
Kurzer Exkurs: Geschichte wird gemacht!
Dass wir uns heute über Parteien und Parlamentarismus streiten können, ist nicht zuletzt Folge von sozialen Kämpfen, welche stets gegen die Interessen der Herrschenden geführt werden mussten und von diesen blutig und repressiv niedergeschlagen wurden. Auf dem Gebiet des heutigen Westeuropa hatten Könige, Klerus und Adel in der vorkapitalistischen Epoche kein Interesse daran, dass Bauern*Bäuerinnen, Handwerker, die sogenannten »niederen Stände«, (sowie in Folge das entstehende Bürgertum) ihre Macht- und Mitspracheansprüche artikulierten, obwohl sie den gesellschaftlichen Reichtum schufen, jedoch ihr Leben am Rande des Existenzminimums führen mussten. Dabei wurde der herrschaftliche status quo argumentativ als quasi-natürliche, da gottgewollte, Ordnung inszeniert und verteidigt. Mithilfe dieser Logik schützte das System der weitesgehend statischen Ständegesellschaft über Jahrhunderte eine sich in alle Lebensbereiche erstreckende Machthierarchie, in der allein die Geburt maßgeblich über den gesamten Lebensverlauf und das Maß an gesellschaftlicher Teilhabe bestimmte.
Im Zuge der kapitalistischen Entwicklung, der brutalen Auflösung der Ständeordnungen und dem Strömen der Menschen von den Dörfern in die entstehenden urbanen Produktionszentren und Fabriken, verschärften sich die sozialen Spannungen, die sich u.a. in zahlreichen Aufständen und Protesten der abhängigen (Produktionsmittel-losen) Arbeitendenschaft entluden. Für die deutschen Staaten finden sich für das ausgehende 18.Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Beispiele. Die existentielle Bedrohung für die Prekarisierten, aber auch deren Wut und Widerstandswillen finden wir bis heute anschaulich dargestellt in Heinrich Heines Gedicht Die schlesischen Weber, welches dem Baumwollweber*innen-Aufstand von 1844 gewidmet ist.
Die entstehenden bürgerlichen Bewegungen in Europa und weltweit kämpften für den modernen bürgerlichen Staat, der als »ideeller Gesamtkapitalist« (Engels) die Rahmenbedingungen für die kapitalistischen Produktionsweisen ordnen und sicherstellen sollte. Im Zuge der Kämpfe gegen die etablierten Machtstrukturen von Kirche, König*innen und Adel beteiligten sich auch frühsozialistische und frühsyndikalistische Bewegungen. Das Abschütteln der alten Machtordnungen durch bürgerlich-revolutionäre Kämpfe wurde auch als Dialektik verstanden, Kämpfe um »Brot und Würde« erfolgreich zu Ende zu führen und die Gesellschaft aus der Knechtschaft zu befreien.
Ob der Staat und damit die Parlamente als sinnvolle »Beute« verstanden werden dürfen, war schon Mitte des 19. Jahrhunderts der Streitpunkt in der ersten Internationale (gegründet in London 1864), vornehmlich zwischen Marx und Bakunin.
Wenn wir über Parlamentarismus debattieren, dürfen wir dabei nicht die Kämpfe der Arbeiter*innenbewegungen vergessen, welche die heute als längst etablierte Minimalstandards verklärten Errungenschaften erkämpften: egalitäres Wahlrecht, das sogenannte Frauenwahlrecht, Arbeitsrechte, »soziale Absicherung«, etc. Es waren die proletarischen Bewegungen, deren Kämpfe Grundsteine für eine Artikulation der Arbeiter*inneninteressen legten.
Diese bilden in zahlreichen Ländern bis heute eine Basis für die Entstehung politischen Bewusstseins sowie für gesellschaftliche Kämpfen und müssen in unseren grauen Zeiten vielleicht umso vehementer verteidigt werden. Nach einer Phase der Zugeständnisse der kapitalistischen Klasse sowie des Staates gegenüber starken sozialen Bewegungen, deren Hintergrund mit Sicherheit nicht zuletzt auch in der System-Konkurrenz mit dem »Realsozialismus« der Sowjetunion zu finden ist, werden soziale Errungenschaften heutzutage stetig ausgehöhlt und zunehmend dem Wohlwollen des Marktes überlassen. Die aktuellen Kämpfe in Frankreich gegen das »Loi Travail«, die neoliberale Arbeitsmarktreform einer Regierung, die nur ihrem Namen nach sozialistisch ist, stehen dafür sinnbildlich.
»Würden Wahlen etwas ändern, dann wären sie verboten«
Dieses in der linken Bewegung verbreitete Zitat spiegelt sicherlich den subjektiven Eindruck vieler Menschen wieder. Es kritisiert zum Einen grundsätzlich die Wahlen als Herrschaftsinstrument und postuliert zeitgleich die Annahme, dass der Wahlausgang nichts am bestehenden System verändern würde bzw. dass die Parteien nichts am bestehenden System verändern können. In der Tat können Parlamente als Mittel der Einhegung sozialer Proteste begriffen werden. Gerade in Zeiten permanenter, krisenhafter kapitalistischer Entwicklungen werden Parlamentarier*innen nicht müde zu betonen, dass politische Auseinandersetzungen doch bitte vor allem im Parlament zu erfolgen hätten. Von diesem Standpunkt aus gelangt mensch zu einer (nicht nur in der Linken verbreiteten) radikalen Kritik an der parlamentarischen Demokratie. Diese Kritik ist inhaltlich zwar berechtigt, führt in der Praxis aber womöglich zu ungewollten Konsequenzen. Weshalb wir weiter unten zu einer grundlegenden Kritik am Wahlsystem kommen werden.
Gleichzeitig sehen wir, wie europaweit immer neue Verarmungspolitiken etabliert werden, beispielsweise die Hartz-IV-Gesetze in Deutschland oder die Politik der Troika/Institutionen in Griechenland. Zwar sind die Beziehungen zwischen dem Kapital und den politischen Entscheidungsträger*innen kein Geheimnis, denoch werden die Entscheidungen letztlich von den politischen Eliten gefällt oder zumindest abgenickt und diese sind, sowohl in ihrer gesellschaftlichen Funktion, als auch als Individuen, für diese verantwortlich. Es sind demnach die Politiker*innen, die Bundes-, Landes- und Stadtregierungen, die mit ihrer jeweiligen Auslegung des Sozialstaatsgedankens (nicht nur) die Armuts- und Arbeitspolitiken maßgeblich prägen.
Betrachten wir die Geschichte der Arbeiter*innenbewegung, in deren Tradition wir uns verorten, so war der Kampf um gesellschaftliche Partizipation, ob durch Wahlen oder Räte, einer der frühen zentralen Kämpfe. Das Wahlrecht, wenn auch zunächst nur für Männer, war ein wichtiger Erfolg eben dieses Kampfes. Heutzutage ist die (indirekte) Wahl (der Repräsentant*innen) das Abstimmungsinstrument mit der größten gesellschaftlichen Teilnahme geworden, somit legitimiert sie aus Sicht der Herrschenden das Parlament, dessen Gesetze und den Staat. Nicht zu vernachlässigen ist zudem, dass auch in Zeiten großer politischer Apathie, mangelnder gesellschaftlicher Partizipation, Vereinzelung und genereller Skepsis gegenüber dem politischen Establishment in Form von Regierung und Parlament, sich ein Großteil der Bevölkerung eben nicht gegen »demokratische« Entscheidungsstrukturen in Form des Parlamentarismus ausspricht. Nach wie vor wird die parlamentarische Demokratie – natürlich mit großer Beteiligung der Herrschenden selbst – als Ausdruck einer freiheitlichen modernen Gesellschaft inszeniert und propagiert. Auch wenn uns als radikalen Linken dieser Zirkus nicht passt, so dürfen wir die allgemeine gesellschaftlich Zustimmung zum Parlamentarismus nicht ignorieren, wenn wir größere Teile der Bevölkerung für unseren Kampf für eine wirkliche gesellschaftliche Partizipation, auf egalitäter und selbstverantwortlicher Basis, begeistern wollen.
Zwar ist ein gewisses Meckern über das Herrschaftspersonal und eine damit verbundene generelle Skepsis bezüglich der Wahlen durchaus verbreitet – mensch wählt das geringere Übel und gibt nicht viel auf Wahlversprechen. Jedoch ist diese Form der Politikverdrossenheit keineswegs automatisch antikapitalistisch oder auf Selbstverwaltung abzielend. Vielmehr wird häufig verlangt, dass sich die Politiker*innen doch richtig ums Volk kümmern müssten. Der Schaden ist in diesem Bewusstsein also nicht das Resultat der Politik, sondern ein Versäumnis, sich nicht genug um die Deutschen gekümmert zu haben. Oft genug wird dies daher auch mit dem Vorwurf verbunden, ausländische Interessen, Migrant*innen oder Geflüchtete zu bevorzugen – die rechten »Merkel muss weg«-Demos funktionieren nach genau diesem Schema. Dem muss mensch sich bewusst sein und stets auf den linken Inhalt der Parlamentarismuskritik pochen.
Für wessen Interessen?
Ob alle 4 oder 5 Jahre – Wahlen erscheinen als häufig inhaltsleeres Ritual. Die durch die Medien tourenden Parteioberen tragen die größten Versprechen vor, die sie genauso schnell wieder vergessen. Die wenigen Parteimitglieder, die mensch persönlich kennt und denen mensch vertraut, sind häufig nicht persönlich wählbar.
Letztlich ist es wie mit Vorsitzenden einer von der kapitalistischen Klasse anerkannten Gewerkschaft – sie alle werden sich hüten, ihre Basis von Autorität und sozialem Status in Gefahr zu bringen.
Wenn auch in Bezug auf die »Gleichheit« beim Wahlrecht in den letzten Jahrhunderten eine Menge erreicht wurde, so bildet der gesamte parlamentarische Komplex nach wie vor ein höchst elitäres Konzept der Herrschaftssicherung. Angefangen bei den beteiligten Politiktreibenden, deren Einkünfte, gesellschaftliche Positionen und Sozialprestige sich in der Regel bedeutend von denen des »gemeinen Wahlvolks« unterscheiden. Sie inszenieren sich als »Stellvertreter*innen« der Bevölkerung – und bleiben gleichzeitig der Logik und den Spielregeln einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung verbunden – die sich nicht gerade durch Menschenfreundlichkeit und Partizipation auszeichnen.
Die elitäre Logik des parlamentarischen Systems geht jedoch noch viel weiter. Häufig unterthematisiert – auch in Teilen der Linken – ist die immanente Ausschlusslogik, die den Wahlen innewohnt. Denn eine Gesellschaft besteht mitnichten einzig aus Wahlberechtigten – wie die bürgerlichen und frauenrechtlerischen Kämpfe ums Wahlrecht der letzten Jahrhunderte gezeigt haben. In unserer heutigen Gesellschaft trifft der permanente Ausschluss von parlamentarischen Entscheidungsprozessen diejenigen, welche nicht den passenden Pass vorweisen können – unabhängig davon, wie lange und in der wievielten Generation sie bereits im Land leben. Bedenkt mensch gleichzeitig, dass das Erlangen der deutschen Staatsbürgerschaft ein mit zahlreichen bürokratischen und rassistischen Hürden gespicktes Glücksspiel ist, so zeigt sich die perfide Ausschlusslogik gegenüber bedeutenden Bevölkerungsteilen (die zudem oftmals von mehrfacher Diskriminierung und Prekarisierung betroffen sind…) in all ihrer Hässlichkeit. Die Auswahl derjenigen, die die Wahl haben, ist somit auch eine direkte Stützung des nationalstaatlichen Prinzips, welches sich seit seiner Erfindung durch den Ausschluss vermeintlich »Fremder« aus dem nationalen Kollektiv legitimiert. Die Tatsache, dass die deutsche staatsbürgerliche Rechtslage auf einer Logik von »Blutsverwandtschaft« und Vererbung basiert und somit zutiefst rassistisch ist, untermauert das Konzept einer geteilten Gesellschaft aus Entscheidungsbefugten und Entmündigten.
Im Kontext der heutigen (welt-)politischen Lage, die von zahlreichen Kriegen und davon ausgehenden Flucht- und Migrationsbewegungen gezeichnet ist – und die derzeit auch nur eine Verschärfung einer jahrhundertealten weltweiten Migrationspraxis darstellt – bedeutet der Ausschluss etwaiger neuer bzw. größer werdender Bevölkerungsteile von den Wahlen nichts anderes, als eine Fortführung kolonial-kapitalistischer Entrechtung und Fremdbestimmung. Diejenigen, die heute in die reichen europäischen Staaten fliehen, sind Leidtragende jahrhundertelanger kolonialer und kapitalistischer Ausbeutung und imperialer Interessen westlicher Staaten, die zu großer Armut und politischer Destabilisierung geführt haben. Die probate Praxis, diejenigen, die an den europäischen Grenzen nicht ihr Leben lassen mussten, zunächst in Lagern einzufärchen und weitesgehend von gesellschaftlicher Teilhabe abzuschneiden, setzt tradiertes (europäisches / weißes) Herrschaftsdenken fort – wenn auch offener Rassismus heutzutage an regressive Stimmen aus AfD und Co. abgegeben werden kann. Nicht zuletzt hier verkommt die Forderung politisch Machthabender zur (einseitigen!) Integration an »Migrant*innen« zur Farce, denn sie bedeutet keineswegs die Möglichkeit zur umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe, sondern bestenfalls eine Eingliederung billiger und entmündigter Arbeitskräfte in den kapitalistischen Verwertungsprozess. Ebenso dienen diese als jeweils passende Sündenböcke für alle möglichen gesellschaflichen Missstände.
Natürlich ist es für uns, als antikapitalistische und basisdemokratische Bewegung, jedes Mal eine Frage der politischen Prinzipien, ob wir mit dem Abgeben unserer (Wahl-)Stimme diesen Staat und die bestehende Ordnung legitimieren oder ob wir diese Zustimmung verweigern – doch sollten wir uns stets dessen bewusst sein, dass bereits diese Entscheidungsmöglichkeit ein großes Privileg darstellt, welches nicht alle besitzen – weder in noch außerhalb unserer Zusammenhänge. Unsere Diskussionen und unsere politische Praxis dürfen diesen Widerspruch nicht ausklammern. So kann in diesem Zusammenhang die Unterstützung migrantischer Wahlrechtsforderungen trotz aller Gegensätze ein progressiver Schritt sein – wenn auch keiner, der zur generellen Aufhebung der systemimmanenten Logik wirklich beitragen kann.
Wen wählt »die Antifa«?
Als antifaschistische, außerparlamentarische Linke haben viele ein besonders ambivalentes Verhältnis zu Wahlen und besonders zu linken Parteien. Gerade in lokalen und regionalen Bezügen haben Antifaschist*innen negative Erfahrungen gemacht, wenn linke Parteien politische Macht errungen haben – es sei hier nur der Rot-Rote Senat in Berlin in den Jahren 2006 – 2011 in Erinnerung gerufen. Im Endeffekt scheint es egal zu sein, welche Partei die politische Verwaltung inne hat: ein Bullenknüppel bleibt ein Bullenknüppel, die Jobcenter-Maßnahmen bleiben genauso repressiv und die Rüstungsexporte werden schließlich auch nicht eingestellt.
Im Rahmen des dialektischen Verständnisses haben jedoch viele antifaschistische Gruppen und Einzelpersonen ein pragmatisches Verhältnis zur Partei Die Linke entdeckt, wenn es darum geht, die dringend nötigen Abwehrkämpfe gegen Rechts zu führen. Als Lehre aus der fatalen Sozialfaschismusthese der KPD gegenüber der SPD in der sogenannten Weimarer Republik sollen die Reihen wenigstens gegenüber dem gemeinsamen Feind, der faschistischen Gefahr, nicht bröseln dürfen.
Ein Austausch mit lokalen Basisaktivist*innen von Parteien kann wichtig sein, wenn es darum geht, gemeinsam Nazi-Aufmärsche zu blockieren und rechte Strukturen offen zu legen, parlamentarische Anfragen zu stellen und sich selbst gegenüber der staatlichen Repressionsmaschinerie zu schützen.
Inwiefern eine Zusammenarbeit darüber hinaus möglich ist, scheint fragwürdig. Sind es doch jene Parteien, die mit rassistischen und sozialchauvinistischen Inhalten Politik machen, wenn sie selbst Teil der Machtstruktur sind. Was als vermeintlicher Sachzwang oder »Realpolitik« dargestellt wird, ist nichts weiter als Rückgradlosigkeit der Partei-Eliten, denen auch unsere Aufmerksamkeit und unsere Kämpfe gebühren. Basisaktivist*innen muss der Rücken gestärkt werden, um solidarische Perspektiven aufzuzeigen und dem Top-Down-Rechtsruck von Parteien eine widerständigere Basis entgegenzustellen. Gerade in Zeiten der parlamentarischen Opposition wird durch Parteien Nähe zu Basisbewegungen simuliert (bspw. Mieter*innenbewegungen, antirassistischen Initiativen etc.), die dann jedoch nach Machtantritt marginalisiert oder schlicht vergessen werden. Uns ist bewusst, dass die Korrumpierung von Parteiaktivist*innen nicht erst durch Machterlangung, sondern durch das Interesse an einer profitablen Teilhabe an den bestehenden Verhältnissen herrührt. Und darum wissen wir auch, wie schwierig dieses Verhältnis letztlich ist und dass es auch im lokalen Rahmen immer wieder auf den Prüfstand muss. Jedoch kann der Partei-Elite auf den Zahn gefühlt werden, wenn die jeweilige Basis Anbindung an unsere Bewegungen hat. Kein rassistischer Diskurs, keine Zustimmung zu Waffenexporten und Kriegseinsätzen der Bundeswehr, keine extremismustheoretischen und sozialchauvinistischen verbalen Ausfälle ohne unsere Gegenwehr.
Sag mir wo du stehst…
Die Debatten um das »richtige« Verhältnis zu Wahlen sind eine linke »Gretchenfrage«, die nicht einfach zu beantworten ist. Vielmehr muss darum geworben werden, gesellschaftliche Widersprüche zu erkennen und die eigene Verwobenheit in Macht und Hegemonie zu reflektieren. Dies bedeutet ganz praktisch, dass es keinen »einfachen, widerspruchsfreien« Weg aus dem Dilemma gibt, wie Gesellschaft ohne Parteien und Parlamente sozialrevolutionär umzugestalten ist.
Während Sozialabbau, Sozialchauvinismus und offener Rassismus immer enthemmter um sich greifen, fehlt es der radikalen Linken nicht nur an Klassenanalysen, sondern auch an Bündnispartner*innen, um die größten Gefahren abzuwehren. In Zeiten der regressiven gesellschaftlichen Entwicklung ist »links sein« eine Subkultur, die neben dem »Refugees welcome«-Shirt kaum Berührungspunkte zu gesellschaftlichen Realitäten hat.
Neben einem »kritischen Konsumismus« der »richtigen« Musik, der Ernährungsweise und der korrekten Barauswahl, müssen wir unsere gesellschaftlichen Kämpfe nicht virtuell, sondern ganz praktisch führen. Dies bedeutet eine Notwendigkeit, sich der eigenen Klassenprivilegien bewusst zu werden. Wer aus dem Prekariat ist wie in antifaschistischen Bewegungen überhaupt (noch) präsent oder gar akzeptiert? Mit wem und für wen führen wir unsere Kämpfe?
Dabei ist nicht zu vergessen, dass das Aufwerfen sozialer Themen und die Unterstützung sozialer Bewegungen von links rechten Kräften ganz aktiv den Raum nimmt. Dem bundesweiten Aufschrei im Zuge der nach rechts gerückten Montagsmahnwachen sowie des politischen Aufstiegs der AfD liegt die Preisgabe linker Themenfelder wie »Frieden« und »Klassenkampf« an rechts zugrunde. Gerade zum letztem Punkt müssen wir uns fragen, wie entkoppelt radikal-linker Politikstil ist, wenn große Teile prekarisierter Massen auf rassistische und sozialchauvinistische Rhetorik hereinzufallen scheinen.
Welche Anbindung hat unsere Politik noch, wenn wir selbst ritualisiert und entfremdet voneinander unsere Kämpfe, teilweise ohne Einbeziehung der real Betroffenen, führen?
Gemeinsame Kämpfe müssen geführt werden- und diese immer an der Basis. Dies erfordert einen Mentalitätswechsel, so dass »politischer Aktivismus« kein garnierendes Element zur Konsum-Subkultur darstellen darf, dass soziale Kämpfe derjenigen miteinbezogen werden, die aus antifaschistischer Perspektive wenig Aufmerksamkeit und Support bekommenseien es basisgewerkschaftliche Gruppen, stadtteilpolitische Initiativen, internationalistische Organisationen…
…und welchen Weg du gehst!
Das Erstarken der AfD ist ein Alarmsignal, die erneute Auseinandersetzung zu Parlamentarismus und Parteien längst überfällig. Objektiv haben wir die reale Gefahr der »schleichenden Faschisierung« durch AfD und lokale Rechtsparteien, die versuchen, mit dem Instrument des Parlamentarismus die Macht zu erlangen. Die Gefahr der Zerschlagung von Gewerkschaften, linken Parteien, des Verbots linker Symboliken als staatliche Vorbereitung des faschistischen »Take-Overs« mag vielleicht noch weit hergeholt erscheinen. Ein Blick in andere, bspw. europäische Länder, in denen der parlamentarische Rechtsruck schon länger wirkt, lässt jedoch auch hierzulande nichts Gutes erahnen.
Die Erhebung verschiedener Institute und Studien diagnostizieren den Mehrheitsdeutschen seit Jahren einen ausgewachsenen Rassismus, sozialchauvinistische Einstellungen und einen Antisemitismus, der klassische »Juden haben zu viel Macht«-Behauptungen bejaht. 20 % würden eine neue rechte Partei rechts von der CDU wählen. Diese gibt es nun mit der AfD. Und noch mehr: das sogenannte Drei-Säulen-Konzept, also dender »Kampf um die Köpfe«, dender »Kampf auf der Straße« und dender »Kampf um die Parlamente«, welches der klassische Neoanzismus propagierte, ist real geworden. Die NPD hat zwar noch lange nicht abgewirtschaftet, aber was sie oder die FAP nicht hinbekommen haben, erledigen PEGIDA und der Mob vor den Geflüchtetenunterkünften (Kampf um die Straße), die Afd (Kampf um die Parlamente) und Publikationen wie die Junge Freiheit und COMPACT (Kampf um die Köpfe). Hinzu kommt das schier unübersichtliche Netzwerk rechter Hetzseiten die in den sozialen Netzweken wie Pilze aus dem Boden schießen.
Bevor wir also vorschnell eindeutige Positionen beziehen, müssen wir uns bewusst werden, welche Kräfte wir damit direkter oder indirekter begünstigen könnten. Derzeit haben wir als linke Bewegung – bzw. der Anteil, der von Staates Gnaden zum Wahlvorgang zugelassen ist – subjektiv die Möglichkeit, die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen kollektiv zu beeinflussen, eine solidarische Perspektive jenseits von Staat, Nation und kapitalistischer Ausbeutung zu entwickeln. Eine vorschnelle Verurteilung des Parlamentarismus kann dies (leider) noch nicht.
Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, das Bestehende hier und jetzt sozialrevolutionär umwälzen zu können. Der autoritären Krisenverwaltung müssen wir unsere Selbstorganisierung entgegensetzen und uns bewusst sein, dass Widersprüche Teil politischen Wirkens sind. Dafür brauchen wir keine Projektionsflächen, bei denen am Ende genau diese Widersprüche geleugnet oder romantisierend verklärt werden. Die identitäre Vereinnahmung der Kämpfe in Griechenland, Frankreich, Kurdistan etc. ist keine Lösung. Vielmehr müssen wir uns bewusst werden: der Hauptfeind steht im »eigenen« Land!
Dabei sollten wir nicht vergessen: jede nicht abgegebene Stimme bedeutet in diesen Zeiten einen Abbau der Hürden für rechte Parteien – und eine Schwächung von möglichen Basisaktivist*innen vor Ort.
Gleichzeitig dürfen wir als libertäre Bewegung genau hier nicht stehenbleiben. Eine pragmatische »Entscheidung« darüber, zur Wahlurne zu schreiten, anstatt das Feld regressiven parlamentarischen Kräften zu überlassen, geschieht für uns bestenfalls zähneknirschend. Trotz des realen Wunsches, durch unsere Stimmen ein tatsächliches Gegengewicht zum Erfolg der AfD zu schaffen, dürfen wir nicht vergessen, dass wir uns genau mit diesem Handeln letzlich auf eben jene Herrschaftslogik auf Basis von Entmündigung und Ausschluss einlassen, die genau das Gegenteil echter gesellschaftlicher Partizipation bedeutet. Mag eine Entscheidung zur Wahl in der heutigen politischen Situation das kleinere Übel bedeuten, so dürfen wir uns dadurch keineswegs den Blick auf das große Bild der gesellschaftlichen Veränderung verstellen lassen – die innerhalb parlamentarischer Logik mitnichten zu erreichen ist.
Die Basiskämpfe gegen die Zustände, die uns das Leben zur Hölle machen, das sind die wirklichen spannenden Ereignisse – und zwar das ganze Jahr über und nicht nur zur Wahl.