Der Begriff des Antisemitismus ist umkämpft, wie kaum ein anderer. Wo er die Ideologien von Neonazis und Hamas-Sympathisant*innen recht gut labelt, wird er von Antideutschen und der israelischen Regierung als bloßer Kampf- und Propagandabegriff für nationalistische Zwecke sinnentleert. Marxistische und anarchistische Jüd*innen werden diffamierend als »self-hating Jews« deklariert. Dem setzte die Jewish Antifascist Action Berlin zuletzt ein Manifest entgegen und auch das Hausprojekt Wilder Vogel hat dem Begriff des Antisemitismus in seinem Selbstverständnis eine Kurzbeschreibung gewidmet, die hier wiedergegeben sei:
Auch Antisemitismus ist eine biologistische (vermeintlich biologisch aber pseudowissenschaftlich argumentierte) Zuschreibung von bestimmten Charaktereigenschaften an eine Gruppe von Menschen, diesmal sind das Ziel dieser imaginierten und als »natürlich« aufgefassten Eigenschaften »die Juden«. Die Zuschreibungen werden dabei durch zwei Komponenten bestimmt: Der Zugehörigkeit zu einem angenommenen jüdischen »Volk« und dem Glauben an die jüdische Religion (wobei sich dieser Zwiespalt auch in jüdischen Diskussionen selber wiederfindet, Jüdischsein »vererbt« sich über das Vorhandensein einer jüdischen Mutter, was auch in Israel zu Konflikten mit sogenannten Vaterjuden führt, die einen jüdischen Vater und eine andersgläubige Mutter haben, sich aber dennoch der jüdischen Religion und dem israelischen Staat als gleichberechtigt verbunden fühlen). Die Diskriminierungslinien sind also schon von dieser zweifachen Zuschreibung her recht komplex.
Jüdischen Menschen werden häufig Charaktereigenschaften wie Geiz, Gewinnsucht, Habgier und ähnliches zugeschrieben. Es scheint wichtig, diese »Eigenschaften« hervorzuheben, weil gerade sie und die ihnen innewohnende Nähe zu einigem, was auch der Kapitalismus an Negativem zu bieten hat, eine wichtige Komponente von antisemitischer Propaganda bilden.
Es wird zudem unterstellt, dass das imaginierte jüdische »Volk« eine spezifische Kultur besitze, die sich zum Beispiel vom ebenso imaginierten deutschen »Volk« deutlich unterscheide und deren Anwesenheit in zum Beispiel »Deutschland« zu einer Zerstörung der »natürlichen deutschen Kultur« führen würde. (Anklänge an rassistische und in neuerer Zeit verstärkt auftretende anti-islamische Unterdrückungsmechanismen sind deutlich und nicht zufällig – die Denkmuster sind ähnliche.) Wenn hier von »deutsch« und »Deutschland« die Rede ist, soll das erst einmal nur als Beispiel dienen, solche und ähnliche Argumente waren und sind in vielen Ländern zu finden, auch wenn sie historisch nur in Deutschland unvergleichlich mörderische Ausmaße annahmen.
Historisch ist der Antisemitismus vom Antijudaismus zu unterscheiden, der sich bis in die Frühe Neuzeit hinein überwiegend auf die Religionszugehörigkeit beschränkte. Es gab extreme Diskriminierung. Pogrome und Mord an jüdischen Menschen waren keine Seltenheit, bezogen sich aber auf die Religion, ein Übertritt zum Christentum machte es jüdischen Menschen möglich, sich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Dies veränderte sich jedoch zunehmend von der Frühen Neuzeit an, bis ab dem 19. Jahrhundert der Antisemitismus »jüdische« Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum »jüdischen Volk« – unabhängig von ihrer eigenen Religiosität als »Juden« – diskriminierte. Antisemitismus muss spätestens ab diesem Zeitpunkt also als eine Form von Rassismus verstanden werden.
Diese Entwicklung ist im Kontext der zunehmend kapitalistischen Beherrschung der Welt zu verstehen, die es einfach machte, oben genannte antisemitische Vorurteile, also als jüdische Eigenschaften vorgestellte Abwertungen mit den dem Kapitalismus innewohnenden Deformationen im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenleben in Verbindung zu bringen. Da auch in der aufkommenden sozialistischen Bewegung »jüdische« Menschen aktiv waren (was verständlich ist, waren doch die meisten »Juden« arm und hatten unter der kapitalistischen Entwicklung genauso zu leiden wie alle anderen auch), entstand so die paranoide Idee einer »jüdischen Weltverschwörung«, so dass es Antisemit*innen möglich wurde, abstrusen Vorstellungen zu folgen wie der des »jüdisch-bolschewistischen Semiten«, der in geheimer Allianz mit dem »Finanz-Weltjudentum« eine Zerstörung der »gesunden« westeuropäischen Kulturen und die Weltherrschaft anstrebe.
Dies führte zu und diente der Verschleierung der realen Machtverhältnisse und der Ablenkung von Aggressionen auf Unschuldige, und hatte in einer Mischung aus Paranoia und entfesselter Aggression im Nazi-Deutschland die Shoa zur Folge, den millionenfachen Mord. Eine Maxime für unser aller Handeln muss sein, dass sich Auschwitz nie wieder wiederholen darf.
Selbstverständlich sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges antisemitische Denkstrukturen und -muster nicht verschwunden, auch wenn es überwiegend verpönt ist, sie zu äußern. Antisemitismus existiert und setzt sich durch die Generationen stetig in immer wieder neuen Formen fort. Ein besonders kontrovers diskutiertes Problemfeld ist die mögliche Verbindung des Antisemitismus mit einer Kritik an der Politik des Staates Israel oder am Zionismus als spezifische Form des Nationalismus. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich solche Kritik immer wieder antisemitischer Stereotype bedient (und sei es nur unter Verweis auf die angebliche Einflussnahme »reicher amerikanischer Juden« auf die US-amerikanische Politik zur Unterstützung Israels). Andererseits sollte die Kritik an der Politik eines Staates nicht durch Unterstellung eines Antisemitismus diskreditiert werden, wenn sie sich solcher Stereotype eben ausdrücklich nicht bedient. Besonders problematisch können Vorwürfe eines unterstellten Antisemitismus auch dann werden, wenn sie selber ein antisemitisches Klischee bedienen. So wird Kapitalismuskritik immer wieder pauschal ein Antisemitismus unterstellt, wenn hinter dieser Kritik am Kapitalismus eine Attacke auf »habgierige Juden« vermutet wird. Die Kapitalismuskritik muss dann gar nicht diese antisemitischen Bilder zur Grundlage haben. Es reichen die antisemitischen Gedanken von Seiten der Unterstellung. Solche Irrtümer sind sicher auch in Bezug auf Kritik am Staat Israel möglich. In diesen Fragen ist Selbstreflexion der Kritiker des Staates Israel, wie auch seiner Unterstützer sicherlich immer wieder nötig.
Dieser kurze Versuch einer Definition des Antisemitismusbegriffes reicht sicherlich nicht ansatzweise an eine erschöpfende Diskussion heran, soll aber einen kurzen Abriss geben und eine Orientierung ermöglichen.
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Das Selbstverständnis (V20170125) steht unter der Creative Commons CC BY-NC-ND-Lizenz by Hausprojekt Wilder Vogel e.V.